Zu keiner zweiten Tiergruppe war unser Verhältnis im Laufe der Geschichte so zwiespältig, so ambivalent, wie zu den beutegreifenden, fleischfressenden „Krumschnäbeln“. Adler, Geier, Bussarde, Milane, Habichte und Falken wurden verehrt und gehaßt, vergöttert und verfolgt. Sie waren Symbole mal des Edelmutes und mal der Mordgier. Zum einen ist der Adler nebst dem Löwen die häufigste heraldische Tiergestalt in den Wappen von Herrschern und Staaten. Vom russischen Zarenreich bis zum demokratischen Amerika, vom Preußen-Staat bis zur Bundesrepublik und von der alten Donau-Monarchie bis zum heutigen Österreich reichen die verschiedensten Variationen mit zwei Köpfen oder einem Kopf, als „Doppeladler“ oder simplen Greif.
Sie lassen den hohen Stellenwert erkennen, den diese gefiederten Beutegreifer in unserer Kulturgeschichte einst hatten. Zugleich aber wurden sie als „Raub“-Vögel kriminalisiert, einst sogar per Gesetz zu Tode verurteilt und daß bei uns nicht sämtliche ausgerottet werden konnten, ist der Lebensweise und der Anpassungsfähigkeit einiger weniger Greifvögel zuzuschreiben.
Viele sind es leider nicht. Was von dieser einst formreichen, faszinierenden Vogelgruppe nach einem beispiellosen Massaker des Menschen gegen seine Mitgeschöpfe übrig blieb, ist im wesentlichen Mäusebussard und Turmfalke. Zwei Arten, die man zum Glück noch draußen im Freien regelmäßig beobachten kann. Aber wer und wenn, wie oft sieht heute noch einen Sperber, eine Rohrweihe oder einen Baumfalken? Sie sind zu Raritäten unserer und ihrer Heimat geworden.
Der Steinadler, einst auch im Tiefland Zuhause, lebt heute bei uns nur im Hochgebirge, Habicht und Wespenbussard meiden aus guten Gründen uns Menschen und leben dort, wo es sie noch gibt, mehr oder weniger „unsichtbar“. Wiesenweihe, Wanderfalke und Schwarzmilan sind in ihren kümmerlichen Restbeständen akut bedroht, Seeadler und Sakerfalke sind hierzulande fast schon ausgestorben, über Kaiser-, Schlangen-, Zwerg-, Fisch- und Schreiadler (einst alle Brutvögel in Österreich) kann nur noch ein Nekrolog geschrieben werden und der Bartgeier wurde, zusammen mit den behaarten Beutegreifern Luchs, Wolf und Bär, bereits schon vor mehr als hundert Jahren ausgerottet.
Die Motive dieses zoologischen Holocaust waren anfangs andere wie später. Als noch große Schafherden mit vielen Lämmern durch das Land zogen und Hühner nicht in Legebatterien gequält wurden, sondern um die Bauernhöfe frei herum liefen, waren sie ein gedeckter Tisch für die größeren Greife und diese deshalb Konkurrenten, eben „Raub“-Vögel für die Bauern. Als die extensive Viehwirtschaft von der Stallhaltung abgelöst und draußen die intensive Wild-„Hege“ einsetzte mit dem massenweisen Aussetzen und haustierähnlichen Füttern von Fasanen als lebenden Zielscheiben der Jagdlust, wechselte das „Feindbild Krummschnabel“ aus der Viehhaltung ins Waidwerk. Mit Schlageisen, Gift, Ausschießen der Jungen aus dem Horst und Schußprämien wurde keine auch noch so grausame Methode und Gelegenheit ausgelassen, um sich der lästigen Mitjäger zu entledigen. Die Streckenberichte sprechen da eine deutliche Sprache, die Dunkelziffern freilich nicht inbegriffen.
Die Folgen dieser Greifvogel-Pogrome unter dem euphemitischem Begriff „Hege“ getarnt sind mittlerweile bekannt und lassen sich weder mit „Biotopschwund“ noch mit der pseudolologischen Begründung von der notwendigen Herstellung eines angeblich „natürlichen Gleichgewichts“ mit der Jagdwaffe wegdiskutieren.
Auf der anderen Seite versuchen nicht minder pseudoökologisch argumentierende, wenn auch zweifelsohne gutmeinende Naturfreunde die „Notwendigkeit“ der Greifvögel damit zu begründen, daß sie ihnen unterstellen, sie würden die Bestände ihrer Beutetiere nicht in den Himmel wachsen lassen und dadurch für uns etwas „Nützliches“ leisten, wie die braven Meisen etwa, die den Wald angeblich von Insekten „säubern“. Abgesehen von der wissenschaftlichen Widerlegbarkeit solch simpler Heile-Welt-Bilder eines naiven Öko-Wunschtraumes sind diese gar nicht ökologisch, sondern vielmehr ökonomisch ausgerichtet und der Naturschützer, der sie gebraucht, bedient sich dabei ungewollt der Argumentationsweise des Naturnützers, was ihm jedoch selbst offenbar gar nicht bewußt wird.
Hat in dieser Welt nur Lebensrecht, was uns „Nutzen“ bringt? Müssen Greifvögel erst beweisen, daß sie dem Menschen in irgendeiner Form dienen können, um von ihm gnädig geduldet und nicht gleich beseitigt zu werden? Müssen wir denn immer krampfhaft nach einem menschenbezogenen Sinn suchen, um die Existenzberechtigung dieser wunderbaren Geschöpfe und somit ihren Schutz zu rechtfertigen? Sind alle Mitgeschöpfe dieser Erde wirklich nur mit dem Ziel „erschaffen“ worden, einer einzigen Art, dem Homo sapiens zu „dienen“? Legitimiert uns das Bibelwort „Macht euch die Erde untertan“ zum Töten, zum Ausrotten von Greifvögeln?
Die Faszination ihrer Gestalten und Verhaltensweisen, das „Wunder“ der Evolution, die diese Vielfalt an Funktionstypen von nichtmenschlichen Jägern hervorgebracht hat, sollten, meine ich, jenseits aller ökonomischer und selbst ökologischer Argumente genügen, um Greifvögeln das volle Lebensrecht zuzugestehen. Wir können ihnen (zum Glück!) keine Hausaufgaben stellen, daß sie gefälligst so zu leben, sich so zu verhalten, sich so zu ernähren haben, wie es in unser anthropozentrisches Welt- und Wunschbild paßt. Sie sind weder die „braven“ Regulatoren einer simplifizierenden quacksalberischen Öko-Heilslehre, noch die „bösen“ Räuber eines sich naturschützerisch gebährdenden Weidewerks. Der „Wert“ der Greifvögel, wie auch aller anderen Mitgeschöpfe, ist allein schon in der Tatsache ihrer Existenz begründet. Der Versuch, diesen in Euro zu berechnen wäre mit einer „Konsumbewertung“ des Anblicks der Mona Lisa oder des musikalischen Eindrucks der Missa Solemnis vergleichbar.
Als wir versucht haben, den Bestand des in großen Teilen seines früheren mitteleuropäischen Brutareals bereits ausgestorbenen Wanderfalken durch Auswilderung nachgezüchteter Jungfalken zu stützen, bekam ich eine denkwürdige Frage gestellt. „Sie sind ja wirklich schön, diese Wanderfalken…“ bemerkte eine Spenderin der Wiederansiedelungs-Aktion „…aber was bringen sie uns“?
„Was sie uns bringen? Nichts! Wie Mozart“- war meine spontane Antwort auf diese für unseren Zeitgeist leider so typische Frage. Menschen können natürlich auch in einer Welt ohne Wanderfalken und ohne Mozart leben, sehr gut sogar. Aber ist das dann noch eine lebenswerte Welt?